Dies Domini – 27. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Zu den Errungenschaften der Neuzeit gehören literarische Erzeugnisse, die den vielversprechenden Titel „Bedienungsanleitung“ tragen. Nicht selten sind sie der Gattung der Realsatire zuzuordnen. Manche dieser Kunstwerke sprachlicher Sparsamkeit lassen den Leser zwischen Verzweiflung und Erheiterung schwanken – vor allem dann, wenn kultur- und sprachraumübergreifend Übersetzungen zum Tragen kommen, die – damit das neu erworbene Gerät nicht durch den Einsatz menschlicher Dolmetscher verteuert wird – von einer willfährigen und allzeit bereiten Maschine mit dem viel versprechenden aber doch etwas übertriebenen Namen „Sprachcomputer“ oder „Übersetzungsprogramm“ erstellt wurde. Manch eine sprachliche Blüte entsteht auf diese Weise, lässt aber erkennen, dass die „Bedienungsanleitung“ bestenfalls ein fiktionales Gerät beschreibt, das jedenfalls nicht mit dem identisch ist, dass der gerade noch stolze Besitzer frisch ausgepackt vor sich stehen hat.
„Bedienungsanleitungen“ sind wie kaum sonst ein literarisches Erzeugnis geeignet, das Unvermögen der menschlichen Sprache aufzudecken. Man kann noch so viele Worte machen: das Eigentliche bleibt ungesagt. Es ist die Intuition des Menschen, die ein Gerät dann doch noch nutzbar macht. Es verwundert daher nicht, dass viele Produzenten mittlerweile auf die Herausgabe von Bedienungsanleitungen verzichten. Stattdessen machen sie ihre Geräte intuitiv bedienbar. Im Entdecken und Erleben erschließt sich der Gebrauch. Das Erleben geht vor der Beschreibung des Erlebens. Noch so viele Worte können das Leben selbst nicht beschreiben, sondern stellen immer nur ein unvollkommenes Abbild dar.
Die frühen Christen wussten um dieses Phänomen. Sie hatten keinen Zweifel daran, dass man nicht über das Heil reden kann; man musste Heiliges erleben und erfahren, um dadurch verändert heilig leben zu können. Die Erfahrung ging der Lehre voraus, das Sakrament stand vor der Katechese. Man war sich bewusst, dass man nicht über etwas reden kann, was man nicht erlebt hatte. Über die Bedeutung der Taufe etwa kann man viele Worte verlieren. Dass sie ein Mitsterben und Mitauferstehen mit Christus ist, wurde denen, die in der frühen Kirche getauft wurden, im Erleben der Taufe selbst unmittelbar deutlich: Das Ablegen des alten Menschen im Ablegen der Kleidung, das Hineinsteigen in das Taufbecken, das Untertauchen in das Wasser – besser: das dreimalige Untergetaucht- und Unter-Wasser-Gehalten-Werden – bis einem fast die Luft wegblieb, das dreimalige Heraufgehoben-Werden, bei dem man begierig die Luft wie neues Leben einsog, und schließlich das Anlegen der weißen Gewänder machten deutlich, dass man aus dem Taufbecken neu Geborener stieg – all das machte auf eine unmittelbare, mit Worten nicht sagbare Weise deutlich:
Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden. (2 Korinther 5,17)
Die Symbolhandlungen der Taufe sind die Botschaft selbst, die Paulus so zusammenfasst:
Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurdne, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein. Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leibt vernichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. Wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Denn durch sein Sterben ist er ein für allemal gestorben für die Sünde, sein Leben aber lebt er für Gott. So sollt auch ihr euch als Menschen begreifen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus. (Römerbrief 6,3-11)
Paulus braucht viele Worte, um zu beschreiben, was der, der die Taufe existentiell erfährt und durchlebt, unmittelbar aufscheint: Sterben und Neugeburt, das Einsaugen des neuen Lebens.
Die frühe Kirche bezeichnete diesen Weg der Glaubenserfahrung als „Mystagogie“. Man kann nicht über den Glauben reden. Es gibt keine Regelwerk, das man lernen kann, um zu glauben. Der Glaube ist ein Erfahrung, ein Verstehen aus Erfahrung, eine Haltung, die im Leben und Vollzug entsteht und das Leben prägt. Erst die existentielle Erfahrung macht die Reflexion des Glaubens möglich. Wie wollte man auch über etwas reden, was man nicht erfahren hat. Wer den Glauben weitergeben will, braucht deshalb Verstand und Intuition. Es gibt keine Bedienungsanleitung für den Glauben; er muss erfahren werden.
In diesen Tagen ist wieder viel von der Lehre Jesu die Rede. Das ist irritierend, denn Jesus hat kein Lehrgebäude hinterlassen, keinen Katechismus, keine Traktate. Wenn er lehrte, dann erzählte er Gleichnisse. Das Wesen des Gleichnisses ist demokratisch. Seine Metaphorik fordert den Hörer und die Leserin zur Mitarbeit auf. Gerade deshalb sind Gleichnisse existentiell bedeutsam, denn Sie nehmen die Hörerin und den Leser mit hinein. Die Bildwelten müssen interpretiert, textliche Leerstellen gefüllt werden. Gleichnissen sind deshalb nicht eindeutig. Ihre Lehre ist nicht definitiv. Die Mitarbeit der Rezipienten eröffnet hingegen Spielräume, die zwar nicht grenzenlos sind, in denen es sich aber leben lässt.
Die Gleichnisse Jesu fordern mehr heraus, als es jeder akademische Diskurs könnte. Wer nur Argumente für und wider etwas abwägt, bleibt letztlich doch im Abstrakten stehen. Ein Wort, das Fleisch werden will, muss sich aber ins Leben wagen. Es muss vom Leben inspiriert sein, Leben atmen, lebendig machen. Wer so redet, lebt gefährlich. Er kann sich nicht darauf zurückziehen, er habe ja nur laut gedacht. Wer Geschichten des Lebens erzählt, muss mit seiner Existenz dafür einstehen. Nicht umsonst mahnt Paulus in der zweiten Lesung vom 27. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A:
Was ihr gelernt und angenommen, gehört und an mir gesehen habt, das tut! (Philipperbrief 4,9)
Erst das sichtbare Beispiel des Paulus macht seine Lehre authentisch. Es ist die Praxis, die über die Brauchbarkeit und Relevanz einer Theorie entscheidet.
Die Gleichnisse Jesu entspringen nicht einem theoretischen Kalkül. Ihre Bildwelten entstammen der lebendigen Umwelt. Es war den Hörerinnen und Hörern klar, worüber er sprach. Und sie werden unmittelbar und existentiell die Bedeutung seiner Worte verstanden haben, ohne dass sie eines Dechiffrierungs-Lexikons bedurft hätten. Die Macht von Gleichnissen, ihre existentielle Relevanz liegt genau in dieser intuitiven Dimension.
Das Gleichnis, das Jesus im Evangelium vom 27. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A erzählt, greift ein altes Gleichnis des Propheten Jesaja, das in der ersten Lesung verkündet wird, auf. Jesaja beschreibt darin das Volk Israel als Weinberg Gottes. Der Weinberg macht Arbeit. Wer die Früchte des Weinbergs genießen möchte, muss vorher schuften. Die Süße der Trauben sind nicht ohne Schweiß zu haben. Es ist gerade die Aussicht auf die Belohnung und den Genuss, der den Arbeiter treibt. Die Enttäuschung ist daher groß, wenn sich der Genuss nicht einstellt. Jesaja beschreibt das im Bild einer enttäuschten Liebe: Gottes Mühen werden nicht belohnt; er lässt den Weinberg brachliegen.
Das Gleichnis Jesu nimmt diese Bildwelt auf, wandelt sie aber leicht ab. Jetzt ist das Volk Israel nicht mehr der Weinberg selbst, sondern wird durch die Winzer repräsentiert. Der Gutsbesitzer schickt Knechte, um ihnen zu helfen, die aber gewalttätig zurückgewiesen werden. Schlussendlich schickt er sogar seinen Sohn, in der Hoffnung, dass die in ihm repräsentierte Autorität die Winzer zur Besinnung bringt. Aber das Unfassbare, der Putsch geschieht: Der Sohn wird getötet, damit sich die Winzer des Weinberges selbst bemächtigen können.
Man kann sich gut vorstellen, dass die ersten Hörer des Gleichnisses, die Hohepriester und Ältesten des Volkes mit intuitiver Abwehr auf diese Erzählung reagierten. Sie waren es doch, die wussten, was Gott wollte – oder etwa nicht? Sie hatten doch die Vollmacht, die Gesetze Gottes zu formulieren und ihre Befolgung einzufordern – oder etwa nicht? Sie hatten doch das Recht, bei Nichtbefolgung entsprechende Sanktionen zu erteilen – oder etwa nicht? Es waren doch schließlich die Regeln Gottes – oder etwa nicht?
Ihre Antwort spricht ihrer eigenen Haltung Hohn:
Er wird diesen bösen Menschen ein böses Ende bereiten und den Weinberg an andere Winzer verpachten, die ihm die Früchte abliefern, wenn es Zeit dafür ist. (Matthäus 21,41)
Jesus selbst führt ihnen ihren Fehlschluss wenig empathisch, dafür mit unübersichtlicher Härte vor Augen:
Das Reich Gottes wird euch weggenommen und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Früchte bringt. (Matthäus 21,43)
Es sind nicht die Regeln, die zählen, sondern die Früchte. Bereits in der Bergpredigt hatte Jesus vor den falschen Propheten gewarnt:
Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten. Jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen. (Matthäus 7,15-23)
Was soll man angesichts dieser Wort von einer Lehre halten, die so viele zum Scheitern verurteilt. Verheißen ist die Fülle des Lebens (vgl. Johannes 10,10), gekommen ist für viele die Verurteilung. Verheißen ist die Gemeinschaft mit Gott auch und gerade für die Sündern, gekommen ist eine Angst vor der Sünde. Verheißen ist das Reich Gottes, gekommen ist eine Sammlung von Regeln und Normen. Dabei wusste schon Paulus, dass erst die Regel den Sünder erschafft:
Die Sünde erhielt durch das Gebot den Anstoß und bewirkte in mir alle Begierde, denn ohne das Gesetz war die Sünde tot. (…) Die Sünde verursachte, damit sie als Sünde offenbar werde, durch das Gute meinen Tod; denn durch das Gebot sollte die Sünde sich in ihrem ganzen Ausmaß als Sünde erweisen. (Römerbrief 7,8.13)
Es ist also nicht die Regel, in der das Heil liegt. Die Regel verursacht eher das Unheil. Erst der am Kreuz Gescheiterte, der durch das Kreuz zum Sünder gemacht wurde, weil die Regel sagte, dass jeder am Holz Hängende ein von Gott Verfluchter und Verlassener sei (vgl. Deuteronomium 21,23), hat durch seine Auferstehung gezeigt, dass die Regel nicht das Leben ist. Das lebendige Wort kann man nicht in Regeln fassen, wohl aber in Geschichten, die vom Leben erzählen. Und es sind die Taten, in denen das lebendige Wort bis heute Wirklichkeit wird.
In wenigen Tagen tagt und berät die Bischofssynode in Rom zu Fragen von Ehe und Familie. Hoffentlich entdecken sie Wege des Lebens.
Ein Mann hatte in seinem Weinberg einen Feigenbaum; und als er kam und nachsah, ob er Früchte trug, fand er keine. Da sagte er zu seinem Wiengärtner: Jetzt komme ich schon drei Jahre und sehe nach, ob dieser Feigenbaum Früchte trägt, und finde nichts. Hau ihn um! Was soll er weiter dem Boden seine Kraft nehmen? Der Weingärtner erwiderte: Herr lass ihn dieses Jahr noch stehen; ich will den Boden um ihn herum aufgraben und düngen. Vielleicht trägt er doch noch Früchte; wenn nicht, dann lass ihn umhauen. (Lukas 13,6-9)
So spricht der, der Gleichnisse erzählte statt Regeln zu verfassen. Die Menschen brauchen keine Bedienungsanleitungen, sondern Intuitionen und Inspirationen, die in mancher Ödnis neue Früchte wachsen lassen. Oder soll man die frischen Reiser, die aus manchem totem Holz wachsen, wieder ausreißen?
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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